Yi Jing

Lebensbilder in Wandlung

„Wer leichten Schrittes die Welt durchmisst, der wird von ihr auch nur leise berührt. Wer sich einlässt auf die Ränke der Welt, der wird tief in ihr Getriebe verstrickt.“

Hung Ying-ming

„Dass alle Geschöpfe sich bilden, keimen, sich entwickeln, Gestalt gewinnen, und Blühen und Welken sich verdrängen, ist der Gang der Wandlungen in der Natur.“

Dschuang Dsi

„Das Herz des Berufenen ist stille; darum ist es der Spiegel von Himmel und Erde.“

Dschuang Dsi

„Statt die Sünden der Vergangenheit zu bereuen, besser die Fehler der Zukunft verhindern.“

Hung Ying-Ming

„Gelehrtheiten verbreiten, ohne ihre Anwendung zu sehen: Das ist Maulhelden-Zen.“

Hung Ying-Ming

„Zerreiß Deine Pläne. Sei klug und halte Dich an Wunder. Sie sind schon lang verzeichnet im großen Plan.“

Mascha Kaleko

Was ist das Yi Jing?

„Das Buch der Wandlungen enthält das Maß von Himmel und Erde; darum kann man damit den Sinn von Himmel und Erde umfassen und gliedern.“ (Richard Wilhelm)

Alle großen Werke der Menschheitsgeschichte wurden geschrieben, um größere Zusammenhänge von Welt und Leben durch Worte, Bilder und systematische Strukturen zu erklären. Sich selbst, die Beweggründe, die Denk- und Handlungsmotive und damit das Leben und das Eingebundensein darin besser zu verstehen, so der einfache Sinn.

Es gibt in der großen Sammlung solcher Schriften aber nur sehr wenige Werke, die von persönlichen Ansichten gänzlich befreit sind und Gesetzmäßigkeiten der Abläufe aufzeigen, die als „Große Ordnung der Natur“ zu beschreiben sind. Das Yi Jing entspricht diesem Anspruch im ganzheitlichen Sinne.

Seine Basis bilden die beiden Urkräfte von Yin und Yang, durch deren Vermischung die acht Trigramme oder dynamischen Grundbedingungen entstehen, die in Kombination, die 64 Hexagramme ergeben. Sie sind ein Erklärungsmuster aller Erscheinungen, Wahrnehmungen, Ereignisse, Umstände und Muster, die wir als „Leben in Bewegung“ bezeichnen. Das Yi Jing zeigt sie als zeitlos gültige Wahrheit, die auf Wandlung beruht. Es gewährt uns Einblicke in die innere Welt der Person und schafft damit Klarheit im Blick auf die Welt und das Gegenüber – auf unvergleichlich tiefe Art und Weise.

  • Es ist nicht dogmatisch
  • Es setzt nichts voraus.
  • Es zwingt nicht.
  • Es bewertet nicht.
  • Es ist ganz einfach erhellend.
  • Es schenkt Klarheit und zentriert.
  • Es führt zurück zum Wesentlichen.
  • Es ist ein verlässlicher Ratgeber.
  • Es befreit von Bewertung und Urteil.
  • Es begeistert, weil es den Geist bewegt.
  • Es erfreut, weil es das Herz berührt.
  • Es schenkt Kraft, weil es motiviert.
  • Es aktiviert, weil es sinnhaft ist.
  • Es bringt Ruhe, weil es zur Mitte führt.

„Es steht dort alles, was gedacht und was gelebt werden kann.“

(Hermann Hesse)

In kurzen Sätzen gesagt

Das Yi Jing ist das Buch von Himmel und Erde und deren Bewegungen durch den Menschen.

Es fördert, was in jedem Menschen natürlich vorhanden ist und lässt es zur freien Geltung kommen.

Das Yi Jing ist der gelungene Versuch, das Absolute, Nicht-Fassbare sowohl in seiner Komplexität als auch in seinen Details in eine Ur-Formel zu bringen und daraus eine ganze Systematik der materiellen Welt logisch abzuleiten.

Das Yi Jing ist ein stiller Ratgeber und Begleiter, der in einsamen Momenten Ruhe, Klarheit und Zentrierung schenkt und in schwierigen Lebenssituationen den Blickwinkel verändert, erweitert und zurück auf das Wesentliche lenkt.

Das Yi Jing gewährt uns Einblicke in die innere Welt der Person und schafft damit Klarheit im Blick auf die Welt und das Gegenüber – auf unvergleichlich tiefe Art und Weise.

In der chinesischen Medizin wird die Kenntnis über seine Darlegung des Zusammenwirkens von Yin und Yang als unerlässlich zur Ausführung der Heilkunst bezeichnet.

„Das Buch der Wandlungen enthält das Maß von Himmel und Erde. Darum kann man damit den Sinn von Himmel und Erde umfassen und gliedern.“

(Richard Wilhelm)

Karte vom gelben Fluss

 

„Das Buch der Wandlungen ist ein Werk, das organisch langsam in Jahrtausenden herangereift ist und das man sinnend und meditierend in sich aufnehmen muss. Und dabei eröffnet gerade die scheinbare Wiederholung immer neue Ausblicke. Es zeichnet kein starres Bild der Totalität der Welt, sondern erfasst sie in ihrer atmen-den Bewegung. Worauf das Augenmerk gerichtet ist, sind nicht die Dinge in ihrem Sein, (….) sondern die Bewegung der Dinge in ihrem Wechsel.“

(Richard Wilhelm)

Was das Yi Jing ist

Im Yi Jing ist die innere und die äußere Welt als eine ausgeglichene Einheit, die nicht voneinander getrennt ist, dargestellt. Nicht Dualität der Kräfte, sondern Polarität und Symmetrie spiegeln sich in seinen Bildern. Es zeigt uns das Leben und die Geschichte des Menschseins als einen fließenden Zustand der Wechselseitigkeit.

Das eine – nennen wir es das dunkle und schattenhafte Yin, kann nicht ohne das andere, das helle und lichtvolle Yang sein. Beide zusammen bilden das bewegte Leben. Das Yi Jing stellt es in seinen 64 Hexgrammen dar, die kombinatorische Muster dieser beiden Kräfte sind. Es entsteht ein polares, ausgeglichenes Ordnungsprinzip, das den Menschen zu sich selbst zurückbringt, ihn sein lässt, was er ist und den Blickwinkel befreit von Bewertung und Urteil.

In seiner Darlegung der Themen, die den Menschen im Denken, Fühlen und Empfinden bewegen, berührt es das Herz und löst Begeisterung aus. Ohne Begeisterung für die Sache Leben an sich, gibt es keine stabile Freude. Nur die Freude, die durch uns selber entsteht, ist eine tragende Kraft. Sie ist diejenige Kraft, durch die alles möglich wird.

Das Yi Jing ist ein sanftes aber umfassend zuverlässiges Halteseil durch das Leben. Durch die Jahrtausende hindurch in seiner Weisheit bestätigt und bewährt, kann man es als ein Geschenk des Himmels an die Wesen der Erde bezeichnen. Sein Sinn ist dem Dao, des alles Bewegenden, verpflichtet – ohne moralischen Fingerzeig.

Es macht nichts besser und nichts schlechter, sondern echter. Manchmal erscheint es streng, manchmal sanft. Es fördert, was in jedem Menschen natürlich vorhanden ist und lässt es zur freien Geltung kommen. Weil es ein Spiegel der „Großen Ordnung“ ist, spiegelt es auch, was nicht in Ordnung ist und bringt es damit in Ordnung.

„Als Lao Tse das Buch der Wandlungen sah wurde er zu einigen seiner tiefsten Aphorismen angeregt. Seine ganze Gedankenwelt ist von den Lehren des Buches durchdrungen. Auch Kungtse sah das Buch der Wandlungen und gab sich dem Nachdenken darüber hin. Er schrieb einige Erklärungen dazu auf und überlieferte andere in mündlicher Lehre seinen Schülern.“ (René van Osten)

Was das Yi Jing nicht ist

In seinen Ursprüngen wurde das Yi Jing als „weises Orakel“ verwendet, das allerdings einzig durch den Meister sprach. Später wurde es dann zur weisen Staats- und Menschenführung herangezogen.

Leider hat das heutige Halbwissen über seinen wahren Hintergrund und das mangelnde Verständnis der Aussagen in den Antworten oft auch dazu geführt, dass es auf die Ebene eines Zufallsorakels heruntergesetzt wurde, das nicht zu verstehen ist.

Doch wahr ist: Wenn etwas auf den Grundfesten der „Großen Ordnung“ beruht, dann kann es auch gefragt werden. Nur muss der Fragende wissen, dass er derjenige ist, der die Antwort in sich trägt und damit bestimmt. Denn das Yi Jing ist entsprechend seiner archetypischen Struktur nur ein Spiegel. Das Verstehen seiner Inhalte wächst mit dem Selbstverständnis und genau dieses wird durch die Auseinandersetzung damit genährt und zum Vorschein gebracht.

Es ist kein Instrument das egoistische Neugierde oder oberflächliche Anliegen befriedigt. Ganz im Gegenteil. Es fördert viel eher eine bescheidene Haltung, die das Maß des Möglichen nicht überschreitet. Weil es alle Dinge in Bewegung in seinen 64 Hexagrammen darstellt, ist es als „Große Antwort“ zu verstehen, die alle kleinen Antworten beinhaltet.

Das Yi Jing ist kein „esoterisches“ Spielzeug. Es verschönt nicht, sondern ist klar. Es umfasst alle Lehren, weil es das Herz des Lebendigen ist, eingepackt in die Codierung der Hexagrammstruktur. Weil es ein archetypischer Schlüssel ist, spricht es alle und alles an. Sämtliche Meister der alten und der neuen Zeit griffen und greifen auf sein Wissen zurück. Eben weil es das Wissen anspricht, das in jedem von uns wohnt.

Es ist keine Heilslehre, die sich verkünden lässt, sondern wirkt heil durch Hinwendung. Der Blickwinkel bestimmt die Wirkung und da es alle Blickwinkelperspektiven beinhaltet, hält es auch alle Perspektiven bereit, die sich durch den Einzelnen zeigen können.

„Das Buch der Wandlungen ist weit und groß. Redet man von der Fer­ne, so kennt es kei­ne Schran­ken. Re­det man von der Nä­he, so ist es still und recht. Re­det man vom Raum zwi­schen Him­mel und Erde, so um­faßt es alles“. (Richard Wilhelm)

Geschichtliches zum Yi Jing

Erster Teil

In der chinesischen Literatur werden vier Heilige als Verfasser des Buchs der Wandlungen angegeben: Fu Hi, König Wen, der Herzog von Dschou und Kungtse.

 

Fu Hi ist eine mythische Figur, der Repräsentant des Zeitalters der Jagd, des Fischfangs und der Erfindung des Kochens. Wenn er als Erfinder der Zeichen des Buchs der Wandlungen bezeichnet wird, so bedeutet das, daß man diesen Zeichen ein so hohes Alter beilegte, daß es über die historische Erinnerung hinausgeht. Die acht Urzeichen haben auch Namen, die sonst in der chinesischen Sprache nicht vorkommen, weshalb man auch schon auf fremden Ursprung dieser Zeichen geschlossen hat. Jedenfalls sind diese Zeichen keine alten Schriftzeichen, wie man aus der halb zufälligen, halb bewußten Übereinstimmung des einen oder anderen alten Schriftzeichens hat schließen wollen.

Sehr früh sind diese acht Zeichen schon in Kombinationen miteinander vorgekommen. Es werden aus alten Zeiten zwei Sammlungen erwähnt: das Buch der Wandlungen der Hiadynastie mit dem Namen Lien Schan, das mit dem Zeichen Gen, das Stillehalten, der Berg, angefangen haben soll, und das Buch der Wandlungen der Schangdynastie mit dem Namen Gui Tsang, das mit dem Zeichen Kun, das Empfangende, angefangen hat. Der letztere Umstand wird von Kungtse selbst gelegentlich als historisch erwähnt. Ob die Namen der 64 Zeichen damals schon vorhanden waren und, wenn vorhanden, dieselben waren wie im jetzigen Buch der Wandlungen, ist schwer zu sagen.

Die jetzige Sammlung der 64 Zeichen stammt nach allgemeiner Tradition, an der zu zweifeln kein Grund vorliegt, vom König Wen, dem Ahn der Dschoudynastie, der sie mit kurzen Urteilen versah, als er von dem Tyrannen Dschou Sin im Gefängnis gehalten wurde. Der Text zu den einzelnen Strichen stammt von seinem Sohn, dem Herzog von Dschou. Dieses Buch war unter dem Namen: Die Wandlungen von Dschou (Dschou I) während der ganzen Dschouzeit als Orakelbuch im Gebrauch, was sich aus den historischen Aufzeichnungen der alten Zeit mehrfach belegen läßt.

So war der Zustand des Buchs, als Kungtse es entdeckte. Er beschäftigte sich in seinem hohen Alter intensiv mit ihm, und es ist höchst wahrscheinlich, daß der „Kommentar zur Entscheidung“ (Tuan Dschuan) von ihm stammt. Auch der Kommentar zu den Bildern geht — wenn auch weniger unmittelbar — auf ihn zurück. Dagegen ist ein dritter, sehr wertvoller und ausführlicher Kommentar zu den einzelnen Linien, der in Form von Frage und Antwort abgefaßt war von Schülern oder Enkelschülern, heute nur noch in Trümmern vorhanden (z. T.im Abschnitt Wen Yen, z. T. im Hi Tsï Dschuan).

In Kungtses Schule wurde das Buch der Wandlungen, wie es scheint, hauptsächlich durch Bu Schang (Dsï Hia) weiter verbreitet. Hand in Hand mit der Ausbildung der philosophischen Spekulation, wie sie in der „Höheren Bildung“ und in „Maß und Mitte“ hervortritt, machte sich diese Art der Philosophie auch immer mehr bei der Betrachtung des Buchs der Wandlungen geltend. Es bildete sich eine Literatur um das Buch, deren Trümmer — alte und spätere — in den sogenannten „zehn Flügeln“ sich finden, die an innerem Wert und Gehalt sehr verschieden sind.

Geschichtliches zum Yi Jing

Zweiter Teil

Bei der berühmten Bücherverbrennung unter Tsin Schï Huang entging das Buch dem Schicksal der andern Klassiker. Aber wenn etwas die Legende, daß die alten Bücher durch die Verbrennung in ihrem Textbestand gelitten hätten, widerlegen kann, so ist es eigentlich der Zustand des I Ging, der dann doch eigentlich intakt sein müßte. In Wirklichkeit sind die Not der Jahrhunderte, der Zusammenbruch der alten Kultur, die Veränderung des Schriftsystems Schuld daran, daß alle alten Werke Not gelitten haben.

Nachdem das Buch der Wandlungen aber seinen Ruhm als Wahrsage- und Zauberbuch unter Tsin Schï Huang bestätigt hatte, machte sich während der Tsin- und Handynastie die ganze Schule der Zauberer (Fang Schï) darüber her, und die wahrscheinlich durch Dsou Yenaufgekommene, später von Dung Dschuag Schu und Liu Hin und Liu Hiang gepflegte Yin-Yang-Lehre feierte ihre Orgien bei der Erklärung des Buchs der Wandlungen.

Dem großen und weisen Gelehrten Wang Bi war es vorbehalten, mit diesem Wust aufzuräumen. Er schrieb über den Sinn des Buchs der Wandlungen als Weisheitsbuch und nicht als Orakelbuch. Bald fand er Nachahmung, und anstatt der Zauberlehren der Yin-Yang-Lehrer schloß sich nun immer mehr die aufkommende Staatsphilosophie an das Buch an. In der Sungzeit wurde das Buch als Unterlage für die — wahrscheinlich nicht chinesische — Tai-Gi-Tu-Spekulation benützt, bis der ältere Tschong Dsï einen sehr guten Kommentar zu dem Buch schrieb, dessen in den „Flügeln“ enthaltene alte Kommentare man unter die einzelnen Zeichen aufzuteilen sich gewöhnt hatte. So war das Buch allmählich ganz zum Lehrbuch der Staats- und Lebensweisheit geworden. Da suchte ihm Dschu Hi doch auch wieder seinen Charakter als Orakelbuch zu wahren und veröffentlichte außer einem kurzen und präzisen Kommentar auch eine Einführung in seine Studien über das Wahrsagen.

Wáng Bì (226 – 249)
Volljährigkeitsname Fuxi

(Originaltext aus „I Ging – Das Buch der Wandlungen“, Richard Wilhelm)

Bildquellen:

  • Laotse reitend mit Hexagrammen – Lao Tse on a Water Buffalo – Colour drawing, Chinese, 18th Century.